Mythos und Wirklichkeit
1 Vorbemerkungen
Diese kritische Betrachtung wird notwendig, weil die Erwartungen an die Personen, die von den Gerichten als Bau-Sachverständige beauftragt werden, oft nur unzureichend
bis gar nicht erfüllt werden. Diese Tatsache veranlasst eine nähere Untersuchung der Rolle und der Arbeit eines ö.b.u.v. Bau-Sachverständigen in Gerichtsverfahren (Beweisverfahren), wie sie in
der täglichen Praxis anzutreffen ist.
Was ist ein Bau-Sachverständiger?
Eine einheitliche und anerkannte Definition gibt es nicht. Die landläufige Meinung versteht darunter eine Person, die auf ihrem Fachgebiet besondere Kenntnisse (Fachkompetenz) besitzt und darüber glaubhaft Auskunft geben kann. Hier stehen diejenigen Personen im Fokus, die von Gerichten beauftragt werden. Gerichte greifen bei Baufragen in der Regel auf öffentlich bestellte und vereidigte (ö.b.u.v.) Personen zurück, weil bei diesen die notwendige Kompetenz zur Erfüllung der ihnen zugedachten Aufgaben vermutet wird. Die ö.b.u.v. Person ist im Beweisverfahren der ZPO Beweismittel zur Feststellung von Tatsachen, siehe dazu ZPO Titel 8 – Beweis durch Sachverständige - §§ 402 bis 414.
Somit ergibt sich folgender
Definitionsvorschlag:
Ein ö.b.u.v. Sachverständiger ist eine Person, die auf der Grundlage der in § 36 GewO und der Sachverständigenordnung den sich durch die gerichtliche Beauftragung
ergebenden Pflichtenkatalog beachtet und erfüllt.
Im Folgenden gilt: ö.b.u.v. Person = Bausachverständige(r) = SV.
2 Der Mythos
Grundlagen sind die Gewerbeordnung (GewO) und die Sachverständigenordnung der jeweils zuständigen Industrie- und Handelskammer bzw. Handwerkskammer im Kontext der Zivil-prozessordnung (ZPO).
Gewerbeordnung,
Beck-Text, 34. Auflage 2003, in der Fassung der Bekanntmachung vom 22.02.1999:
„§ 36 Öffentliche Bestellung von
Sachverständigen.
(1)
Personen, die als Sachverständige auf den Gebieten der Wirtschaft einschließlich des Bergwesens, der Hochsee- und Küstenfischerei sowie der Land- und
Forstwirtschaft einschließlich des Garten— und Weinbaues tätig sind oder tätig werden wollen, sind auf Antrag durch die von den Landesregierungen bestimmten oder nach Landesrecht zuständigen
Stellen für bestimmte Sachgebiete öffentlich zu bestellen, sofern für diese Sachgebiete ein Bedarf an Sachverständigenleistungen besteht, sie hierfür besondere Sachkunde nachweisen und keine
Bedenken gegen ihre Eignung bestehen.
Sie sind darauf zu vereidigen, dass sie ihre Sachverständigenaufgaben unabhängig, weisungsfrei, persönlich, gewissenhaft und unparteiisch erfüllen und ihre Gutachten entsprechend erstatten werden.
Die öffentliche Bestellung kann inhaltlich beschränkt, mit
einer Befristung erteilt und mit Auflagen verbunden werden.
(2)
Absatz 1 gilt entsprechend für die öffentliche Bestellung und Vereidigung von besonders geeigneten Personen, die auf den Gebieten der Wirtschaft
1.
bestimmte Tatsachen in bezug auf Sachen, insbesondere die Beschaffenheit, Menge, Gewicht oder richtige Verpackung von Waren feststellen oder
2.
die ordnungsgemäße Vornahme bestimmter Tätigkeiten überprüfen.
(3)
Die Landesregierungen können durch Rechtsverordnung die zur Durchführung der Absätze 1 und 2 erforderlichen Vorschriften über die Voraussetzungen für die Bestellung
sowie über die Befugnisse und Verpflichtungen der öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen bei der Ausübung ihrer Tätigkeit erlassen, insbesondere über
1.
die persönlichen Voraussetzungen einschließlich altersmäßiger Anforderungen, den Beginn und das Ende der Bestellung,
2.
die in Betracht kommenden Sachgebiete einschließlich der Bestellungsvoraussetzungen,
3.
den Umfang der Verpflichtungen des Sachverständigen bei der Ausübung seiner Tätigkeit, insbesondere über die Verpflichtungen
a) zur unabhängigen, weisungsfreien, persönlichen, gewissenhaften und
unparteiischen Leistungserbringung,
b) zum Abschluss einer Berufshaftpflichtversicherung und zum
Umfang der Haftung,
c) zur Fortbildung und zum Erfahrungsaustausch,
d) zur Einhaltung von Mindestanforderungen bei der Erstellung von
Gutachten,
e) bei der Errichtung von Haupt- und Zweigniederlassungen,
f) zur Aufzeichnung von Daten über einzelne Geschäftsvorgänge sowie
über die Auftraggeber,
und hierbei auch die Stellung des hauptberuflich tätigen Sachverständigen
regeln.
(…)“
Zuständig für die öffentliche Bestellung von SV nach § 36 Abs. 1 GewO sind die von den Landesregierungen bestimmten oder nach Landesrecht zuständigen Stellen. Dabei
wird den Industrie- und Handelskammern meist eine Allzuständigkeit auf den Gebieten der Wirtschaft anvertraut. Die öffentliche Bestellung gründet auf den Sachverständigen-Ordnungen der
zuständigen Kammern. Diese Sachverständigenordnungen sind rechtlich als Satzungen der Kammern zu qualifizieren.
Die öffentliche Bestellung ist
Die Einhaltung des Pflichtenkatalogs soll die entsprechende Gewähr für die Öffentlichkeit sein.
Die Sachverständigenordnung vom 01.06.2002 der Industrie- und Handelskammer Karlsruhe, entnommen dem IHK Ratgeber „RECHT“ Nr. 4 vom August 2002, beschreibt den Zweck der öffentlichen Bestellung unter § 2 mit folgender Formulierung:
„§ 2 Öffentliche Bestellung
(1) Die öffentliche Bestellung hat den Zweck, Gerichten,
Behörden und der Öffentlichkeit besonders sachkundige und persönlich geeignete Sachverständige zur Verfügung zu stellen, deren Aussagen besonders glaubhaft sind.
(…)
§ 8 Unabhängige, weisungsfreie, gewissenhafte und unparteiische Aufgabenerfüllung
(1) Der Sachverständige darf sich bei der Erbringung seiner Leistungen keiner Einflussnahme aussetzen, die seine Vertrauenswürdigkeit und die Glaubhaftigkeit seiner Aussagen gefährdet (Unabhängigkeit).
(2) Der Sachverständige darf keine Verpflichtungen eingehen, die geeignet sind, seine tatsächlichen Feststellungen und Beurteilungen zu verfälschen (Weisungsfreiheit).
(3) Der Sachverständige hat seine Aufträge unter Berücksichtigung des aktuellen Standes von Wissenschaft, Technik und Erfahrung mit der Sorgfalt eines ordentlichen Sachverständigen zu erledigen. Die tatsächlichen Grundlagen seiner fachlichen Beurteilungen sind sorgfältig zu ermitteln und die Ergebnisse nachvollziehbar zu begründen. Er hat in der Regel die von den Industrie- und Handelskammern herausgegebenen Mindestanforderungen an Gutachten und sonstigen von den Industrie- und Handelskammern herausgegebenen Richtlinien zu beachten (Gewissenhaftigkeit).
(4) Der Sachverständige hat bei der Erbringung seiner
Leistung stets darauf zu achten, dass er sich nicht der Besorgnis der Befangenheit aussetzt. Er hat bei der Vorbereitung und Erarbeitung seines Gutachtens strikte Neutralität zu wahren, muss die
gestellten Fragen objektiv und unvoreingenommen beantworten (Unparteilichkeit).
Insbesondere darf der Sachverständige nicht
• Gutachten in eigener Sache oder für Objekte und Leistungen seines Dienstherren oder Arbeitgebers
erstatten.
(…)“
Die ZPO behandelt die Pflichten des Sachverständigen unter Titel 8 – Beweis durch Sachverständige. Hier werden u.A. hier interessierende Pflichten und Forderungen
angeführt, z.B.:
Erstattungspflicht (§ 407), Prüfungspflicht des gerichtlichen Auftrags (§ 407a (1)), Erstattung des Gutachtens unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen,
Glaubhaftigkeit durch Beeidigung (§ 410).
Zusammengefasst kann festgestellt werden, dass hier alle Voraussetzungen, wie Fiktion, Illusion, Selbsttäuschung und Glaube, für den aktuellen Mythos vorliegen, siehe insbesondere GewO § 36 (1) 2.Satz, (2), (3) 3. a), d) und die vorstehenden Formulierungen aus der Sachverständigenordnung § 2 (1) und § 8.
Diese mythische, als Ideal gedachte Kompetenz einer Lichtgestalt, wie sie dort beschrieben wird, ist als ein Blendwerk einzustufen, wenn sie mit den tatsächlich erbrachten SV- Leistungen verglichen wird. Glaube und Vermutung ergeben hier das Vertrauen, auf das sich Gerichtsentscheidungen in der Praxis stützen. Auf dieser fragwürdigen Basis wird den SV die Macht verliehen, Gerichtsentscheidungen wesentlich zu beeinflussen. Vom Helfer zum Entscheider? Und dies soll keine berechtigten Zweifel begründen?
So entpuppt sich erfahrungsgemäß bei genauerem Hinsehen diese vermutete Kompetenz der SV eben lediglich als eine Fiktion, beruhend auf der So-tun-als-Ob-Methode. Das heißt, es wird so getan, als ob die in den Listen der IHK und der Handwerkskammer geführten SV die notwendige Qualität besäßen, um das Beweisthema so zu behandeln bzw. die Beweisfrage so zu beantworten, dass die vom Gericht erwartete Hilfestellung erfüllt wird. Insoweit vertrauen Gerichte bei der Beauftragung von SV auf ein Qualitätsversprechen der zuständigen Selbstverwaltungskörperschaften der Wirtschaft, das oft nicht in der notwendigen Weise erfüllt wird.
Im obengenannten IHK-Ratgeber können die Versprechungen nachgelesen werden, die der Öffentlichkeit und den Gerichten Vertrauen, Glaubhaftigkeit und überdurchschnittliche Qualität suggerieren. Wer in den Listen steht, werde unter bestimmten Kriterien überprüft und überwacht.
Wer überprüft und überwacht, z.B. die „besondere
Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit, Sachkunde, Erfahrung, Unabhängigkeit, Weisungsfreiheit, Gewissenhaftigkeit, Unparteilichkeit, persönliche Erfüllung“ sowohl auf Dauer als auch im gerichtlichen
Einzelfall?
Wer definiert wie diese Begriffe?
Wie geht so was, wie kann das vorgestellt und nachvollzogen werden?
Angesichts der Bedeutung des Sachverständigenbeweises in der
Praxis, müsste da nicht jede gerichtliche SV-Leistung auf diese Kriterien hin überprüft werden?
Welche Bildung und Erfahrung haben die Mitglieder der „Fachgremien und Ausschüsse“, damit diese über die Einhaltung dieser hehren Kriterien überhaupt urteilen
können?
In der Praxis der Einzelfälle türmen sich zu oft grundlegende Fragen auf, die nur einen Schluss zulassen: Dieses System des Zusammenspiels zwischen außergerichtlichen Institutionen und Gerichten ist zweifelhaft. Soweit es die versprochene Selbstkontrolle einer Selbstverwaltungskörperschaft betrifft, ist es paradox.
Durch die Einrichtung des vorprozessualen „selbständigen
Beweisverfahrens“ hat sich diese Situation noch verschärft, denn hier findet so gut wie keine richterliche Überprüfung statt.
Eine willkommene Spielwiese für den Machtmissbrauch unfähiger und unwilliger SV. Was in der Praxis zum totalen Gegenteil der in der Beauftragung vorausgesetzten
Tugenden führen kann.
Aber was treibt dieses System in der Praxis am häufigsten in
die Unglaubwürdigkeit? Mangelnde Sachkunde im Verein mit der Unfähigkeit, den inneren logischen Zusammenhang des jeweils angesprochenen Fachgebiets und den jeweils zugehörigen Kontext zu
erkennen, somit das Thema zu verfehlen!
In der Summe das Gegenteil von dem, was den Bau-Sachverständigen im Bewusstsein der Öffentlichkeit als solchen definiert: Überlegenes Fachwissen, systemlogisches Denken, Erfahrung, gepaart mit
der Fähigkeit und dem Willen, Fragen des Gerichts nachvollziehbar zu beantworten. Also, der SV als eine Hülle ohne Inhalt? Und dieses Glaubens-System (Mythos) soll im „öffentlichen Interesse“
sein?
Wenn dieses System im gedachten Sinne glaubhaft werden soll, dann müsste die Qualität der Bau-SV durch ständige Kontrolle und Auslese so erhöht werden, dass am Schluss tatsächlich so etwas wie Brauchbarkeit und Akzeptanz gewährleistet werden könnte. Aber, wer macht’s, wer kann’s, wer will es?
So ergibt sich, dass nach dem Werkvertragsrecht zu viele Baugutachten im Widerspruch zu den Hauptpflichten des gerichtlich beauftragten SV stehen, nämlich
Schriftliche Gutachten sind nach bisheriger Auffassung abnahmefähige Werkleistungen.
Abnahme = Akzeptanz des Inhalt des Gutachtens = Herstellung des bestellten Werkes.
Da der SV als Helfer des Gerichts fungiert, wird von ihm ebenfalls Unparteilichkeit und Unabhängigkeit gefordert. Im Ergebnis wird ein Gutachten erwartet, das vom SV selbst erstellt wird, ein objektives, allgemein gültiges Urteil enthält, das nachprüf- und nachvollziehbar ist und durch seine Stringenz überzeugt. Dann ist die angestrebte Entscheidungshilfe = fachkundige Beurteilung der Anknüpfungstatsachen erreicht und der gerichtliche Auftrag = Beweisbeschluss erfüllt. Ein zutreffendes Gutachten ist das unerlässliche Fundament und Voraussetzung einer richtigen, gerichtlichen Entscheidung.
Der Mythos einer Lichtgestalt in Person des SV mit den hehren Tugenden, wie besondere Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit, Sachkunde, Erfahrung, Unabhängigkeit, Weisungsfreiheit, Gewissenhaftigkeit, Unparteilichkeit, persönliche Erfüllung nach bestem Wissen und Gewissen, wäre als Leitlinie dann nachvollziehbar und nicht zu kritisieren, also glaubhaft, wenn in der täglichen Praxis dafür die entsprechenden Indizien erlebbar wären. Aber in der Realität der Beweisverfahren verkommt dieser gut gedachte und als Leitlinie auch erforderliche Mythos zu einem billigen Klischee, zu einem Blendwerk, das mehr Probleme schafft als es löst. Auch das Deckmäntelchen der Vereidigung kann darüber nicht hinwegtäuschen. Im Gegenteil: Was ist dieser Eid eigentlich wert?
Laut Brockhaus ist ein Eid, die feierliche Bekräftigung einer
Aussage, eine Wahrheitsversicherung unter Anrufung einer höheren Macht (Mythos). Im Kontext des Sachverständigenwesens, siehe dazu § 5 „Vereidigung“ der Sachverständigenordnung, soll der Eid der
Bekräftigung der Gutachtenarbeit des SV dienen. Zum Beispiel, dass seine Erfüllung „unabhängig weisungsfrei, persönlich gewissenhaft und unparteiisch“ erfolgt und seine Gutachten „nach
bestem Wissen und Gewissen“ erstattet. Ein Bezug auf die erforderliche Qualität und Fachkompetenz eines SV kann hier nicht festgestellt werden. Aber in der Praxis scheint dieses Phantom
trotzdem immer das Bewusstsein der Verfahrensbeteiligten, insbesondere der Richterinnen und Richter, zu beeinflussen, und zwar dergestalt, dass selbst offenkundig unfähigen, schlampig arbeitenden
SV eine verfahrensentscheidende Glaubwürdigkeit zugesprochen wird. Genau genommen ist dies ein Machtmissbrauch, mit dem sich dieses System selbst erledigt.
3 Die Wirklichkeit
Da Gerichte in der Regel über keine Baufachkenntnisse
verfügen, brauchen sie Helfer, um zu Entscheidungen zu gelangen. Also, SV = Helfer des Gerichts. Aus meinen Analysen vieler gerichtlicher Bau-Gutachten ergibt sich, dass in dieser Funktion
folgende Anforderungen und Pflichten erfüllt werden müssten, um zur nachvollziehbaren Erfüllung des gerichtlichen Auftrags zu gelangen, z.B.:
= Gutachten = Beweissicherung =
Anknüpfungspunkt für die
weitere juristische Beurteilung.
Die vorerwähnten Forderungen und Bedingungen können zusammen mit den die Besonderheit des Einzelfalles ausweisenden Begleitumständen in komplexe Wechselbeziehungen treten, die nur mit methodischem Denken und wissenschaftlicher Arbeitsweise, gepaart mit Erfahrung und strenger Unvoreingenommenheit, in die richtigen kausalen Verhältnisse geordnet werden können.
Aber immer auf der Grundlage der wichtigsten
Anforderung:
Die für alle Verfahrensbeteiligte nachvollziehbare Anpassung an die richterliche Arbeits- und Denkmethodik!
Der Richter ist der Entscheider. Da ist es systemlogisch, sich dessen Methodik zu unterwerfen.
Leider können sich hier in der Praxis eklatante Unterschiede zwischen der Intention des gerichtlichen Auftrags und den damit zur Lösung beitragenden Notwendigkeiten, den Erwartungen der Verfahrensbeteiligten und den Interessen des beauftragten SV eröffnen, die letztlich das Beweisverfahren nicht zur angestrebten Klärung führen, sondern eher zusätzlich belasten.
Die Arbeitsweise einer sich als sachverständig ausweisenden Person müsste demnach zunächst auf der Bereitschaft beruhen, die durch bisherige Erfahrungen vorgebildete und bisher als richtig empfundene Meinung zurückzustellen = Unvoreingenommenheit. Gepaart mit der Hoffnung, etwas zu lernen, was den eigenen Erkenntnishorizont erweitert. Es ist der besondere Einzelfall, der lehrt und zur neuen Erkenntnis zwingt.
Eine Erfüllung dieser Art könnte die im Verfahren erwartete Kraft und Glaubhaftigkeit des Sachverständigenbeweises erbringen. Denn der SV hat mit seinem Gutachten wesentlichen Einfluss, wenn nicht sogar den entscheidenden Einfluss, auf den weiteren Fortgang des Verfahrens, auf Vergleichsbemühungen, letztlich auf die gerichtliche Entscheidung. Genau betrachtet, entscheidet die Qualität des Gutachtens das Verfahren.
Das ist der Knackpunkt:
Schlechte Gutachten durch unfähige SV führen zu weiteren Streitigkeiten, auch zu falschen Gerichtsurteilen, wenn das Gericht, sich an das Gutachtenergebnis gebunden
sieht. Obwohl eine rechtliche Bindung des Gerichts an das Gutachten grundsätzlich nicht besteht und der freien richterlichen Beweiswürdigung unterliegt.
Laut Angaben in der Fachliteratur soll es statistische Erhebungen geben, nach denen das Gericht in bis zu 95 % der untersuchten Fälle dem Gutachten folgt, ohne in eine echte inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Gutachten einzutreten. Die Bauprozesse würden durch die Bausachverständigen entschieden. Somit wird das Beweisverfahren, gleichgültig, ob als selbständiges Beweisverfahren oder im Klageverfahren, zur reinen Lotterie.
Der SV wird zum Machtfaktor, weil die Gerichte im (blinden?)
Vertrauen auf das Qualitätsversprechen der stempelvergebenden und listenführenden Institutionen urteilen, somit ihre judizielle Macht zumindest teilweise aus der Hand geben. Das führt im Weiteren
dazu, dass das Qualitätsversprechen über die Fähigkeiten eines SV sich in der Praxis als reine Fiktion und Illusion erweist. Das heißt, wenn bei Gerichtsverfahren über Bausachen SV beauftragt
werden, greifen außergerichtliche Institutionen, wie z.B. Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern u.Ä., mit eigenen Interessen in die gerichtliche Urteilsfindung ein. Es darf gefragt
werden: Wer urteilt hier letztlich, das Gericht oder eine außergerichtliche Einrichtung? Der „ö.b.u.v. Sachverständige“ wird als Mythos zum Machtfaktor. Die Hüter dieser Mythologie sind
Selbstverwaltungskörperschaften der Wirtschaft, an die der Staat die Bestellungszuständigkeit abgegeben hat. Wobei der Staat eine überzeugende Selbstkontrolle im Dienste der Gesellschaft
voraussetzt bzw. unterstellt. Das ist der Idealfall für die Wirtschaft und ihren Interessen: Sie kontrolliert sich selbst.
Das staatliche Interesse wird gleichgestellt mit den Interessen der Wirtschaft.
Diese Selbstkontrolle über die von den Gerichten und der Öffentlichkeit erwarteten Qualität ihrer SV: wieder ein Blendwerk mit der Glaubhaftigkeit eines Ammenmärchens? Die SV unterliegen angeblich einer Regelüberwachung. Mit welcher Fachkompetenz wird da was, von wem, wie überwacht? Kann das dazu führen, dass sich unfähige SV in den entsprechenden Gremien selbst kontrollieren?
Die fachliche Qualifikation wird offensichtlich nicht in der notwendigen Weise kontrolliert. Dazu sind die in vielen Gutachten festzustellenden Mängel zu eklatant. Das regelmäßig zu hörende Argument, dass Unfähigkeit nicht zur Ablehnung dieser Personen führt, offenbart klar den Widerspruch im System: Einerseits das Qualitätsversprechen, andererseits die Diktatur der Unfähigkeit. Oder, muss angenommen werden, dass die Unfähigkeit als Teil des Systems billigend hingenommen wird? Wer profitiert davon? Die durch Baumängel Geschädigten bestimmt nicht, denn es ergibt sich eine weitere Seltsamkeit: Die Unfähigkeit eines SV wirkt sich fast immer zugunsten des Mangelverursachers aus.
Praxiserfahrungen zeigen, dass der Behauptung, die öffentliche Bestellung und Vereidigung von Sachverständigen erfolge ausschließlich im öffentlichen Interesse, mit Zweifeln und Misstrauen gegenüber getreten werden muss. Fehlerhafte Gutachten durch unfähige SV können nicht im öffentlichen Interesse sein.
Bezogen auf den einzelnen SV können sich zum Zeitpunkt der Annahme des gerichtlichen Auftrags folgende sich wechselseitig beeinflussende Problemkreise ergeben:
In der Praxis kann beobachtet werden, dass dies ö.b.u.v. SV, z.B. für das Bestellungsgebiet „Schäden an Gebäuden“, nur selten erfüllen. Eine diesbezügliche selbstkritische Prüfung des SV, ob er für die zufriedenstellende Erledigung dieses Auftrags die notwendigen Grundlagen besitzt, scheint nicht zu erfolgen, siehe ZPO § 407a (1). Es muss andere Beweggründe für die Bestätigung geben, dass das Beweisthema in sein Fachgebiet falle.
Oft ergeben sich unzureichende Gutachten auch durch die aktuelle Interessenlage des SV, z.B. kann eine wirtschaftlich angespannte Lage diesen dazu verführen, sich zu überschätzen und Aufträge anzunehmen, die er nicht sicher beherrscht. Das sich ergebende Risiko ist gering, denn nach dem derzeitigen Stand der Rechtsprechung haftet der SV nach § 823 Abs. 1 BGB nicht, wenn er einen Schaden lediglich leicht fahrlässig verursacht hat. Das heißt umgekehrt: eine leicht fahrlässige Handlungsweise, z.B. bei der Entgegennahme des gerichtlichen Auftrags eine Kompetenz zu bestätigen, die nicht gegeben ist, führt nicht zur Schadensersatzpflicht.
In der Regel ist der von einem SV zu beurteilende Einzelfall oft nicht mit seinem speziellen Fachgebiet und Fachwissen deckungsgleich. Entweder bringt der Einzelfall eine Überschneidung mehrerer Fachgebiete mit sich oder er enthält einen Schwerpunkt, der zwar in das eigentliche Fachgebiet fällt, aber dabei derart in die Tiefe führt, dass der SV sich nicht nur neues Wissen aneignen müsste, sondern begleitend dazu auch neue Arbeitsmethoden. Auch dies gilt es kritisch zu bedenken, bevor der Beauftragung zugestimmt wird.
Dies setzt natürlich voraus, dass der SV seine Grenzen kennt bzw. realistisch einschätzt. Also prüft, ob er die Problematik des zu behandelnden Beweisthemas zumindest in groben Zügen durchschaut und sich dabei bewusst macht, dass seine Leistung einer kritischen Überprüfung durch Dritte standhalten muss. Und ob er das in ihn gesetzte Vertrauen erfüllen kann.
Hier muss angemerkt werden, dass die SV es offensichtlich bei ihrer jahrelangen, teilweise sogar jahrzehntelangen Tätigkeit für die Gerichte nicht gewohnt sind, dass ihre Leistungen überhaupt kritisch überprüft werden. Und dadurch ein unberechtigtes Selbstverständnis entwickelt haben, das nur auf dem Umstand beruht, dass ihre fehlerhaften Leistungen nicht ernsthaft angegriffen und ihnen die Grenzen ihrer Fähigkeit nicht aufgezeigt worden sind. Das führt zu einem apodiktischen Selbstbewusstsein, das jede Kritik als billige Polemik betrachtet, und letztlich dazu, dass manche SV überhaupt nicht zu wissen scheinen, welchem Ziel ihre Gutachtenleistung dienen soll. Aufgrund dieser Unfähigkeit werden weitere Unklarheiten geschaffen, weitere Gutachten (Ergänzungsgutachten) provoziert.
In nicht seltenen Fällen kommt es auch dazu, dass, bedingt
durch eine solche überhebliche Geisteshaltung und Selbstüberschätzung, sich dieser SV nicht mehr nur als dienender Helfer des Gerichts sieht, sondern als Entscheider, als „technischer Richter“,
was mancher, der als Buch- oder Fachartikelautor auftritt, propagiert.
Aber es gibt noch einen Webfehler in diesem System der ö.b.u.v. SV als Helfer der Gerichte, nämlich deren privatgutachterliche und sonstige beratende Tätigkeiten, bei denen sie die durch die
entsprechenden Kammern verliehenen Insignien nutzen. Hier können sich aus zunächst wirtschaftlichen Notwendigkeiten, z.B. Auftragsbeschaffung, Erhalt von Kundenbeziehungen zu Organisationen, die
Gebäude erstellen, verwalten usw., „technische Fallen“ für den SV bei seiner Erfüllung gerichtlicher Aufträge entwickeln.
Beispiel:
Der SV beantwortet eine Beweisfrage nach seinem technischen Dafürhalten, weil er dies auch so in seiner privatgutachterlichen Praxis gewohnt ist, weil er dies für richtig hält und damit noch nie
Probleme hatte (Diese Argumentation ist oft in sogenannten Erörterungsterminen zu hören). Jetzt tritt der Fall ein, dass bei einem Beweisverfahren ihm ein Privatgutachter gegenübertritt, der ihm
nachweist, dass seine Beantwortung der Beweisfrage falsch ist. Was ist die Reaktion des SV? Er leugnet, streitet ab, bringt seine Reputation ins Spiel, die beweisen soll, dass er sich nie irrt.
Aber in der Sache kann er die Richtigkeit seiner Behauptung trotzdem nicht beweisen. Und so kommt es zu dem oft beobachtbaren Phänomen: Ein SV gibt so selten einen Fehler zu, wie ein Stern vom
Himmel fällt. Gleichgültig wie falsch seine Meinung ist, er bleibt dabei, und die Gerichte folgen ihm, weil seine Starrköpfigkeit auf sie überzeugend wirkt. So entstehen Fehlurteile.
Der Grund für dieses Verhalten kann in der privatgutachterlichen Tätigkeit des SV vermutet werden, denn hier unterliegt der SV der Erfolgshaftung des Werkvertragsrechts.
Würde er in einem Gerichtsverfahren zugeben, dass er einer falschen Meinung gefolgt ist, könnte es, sofern dies bekannt werden würde, ihm bei seinen Privatkunden schaden.
Das ist die „technische Falle“. Wie will er seinen Privatkunden erklären, dass er bei ihnen eine andere Meinung vertritt, deren Unrichtigkeiten er vor Gericht selbst zugeben musste?
Andere Probleme sind denkbar, wenn sich der SV in verwandtschaftsähnlichen Verhältnissen mit einem Geschäftsführer eines Bau- oder Bauträger-Unternehmens befindet oder in sonstigen
wirtschaftlichen Beziehungen zu diesem steht, das falsche Konstruktionen oder Konstruktionsdetails ausführt. Auch wenn das Beweisverfahren dieses Unternehmen gar nicht betrifft, so kann es sich
doch herumsprechen, wenn der SV vor Gericht bestätigt, dass eine Ausführung falsch ist, die eben gerade von diesem Unternehmen bevorzugt wird. Das wäre ein Interessenkonflikt, dem ein SV nicht
unterworfen sein darf.
----------------------------
Anmerkung des Verfassers zu seinen vorstehenden Aussagen:
Meine Aussagen beruhen auf meinen Erfahrungen bei der Begleitung meiner Auftraggeber in Beweisverfahren der letzten 15 Jahre. Ich betone ausdrücklich, dass ich damit nicht alle SV unter
„Generalverdacht“ stellen möchte. Im Gegenteil: Ich gebe mich auch weiterhin der Hoffnung hin, dass es irgendwo „da draußen“ mehr als nur einen für Gerichte tätigen Bau-SV gibt, der seinen ihm
auferlegten Pflichten und seinem ihm auf Vorschuss gewährten Status in der gerichtlichen Praxis gerecht wird. Ich sehe meine Pflicht als Bauingenieur darin, auf Missstände hinzuweisen, die das
allgemeine Ansehen meines Berufsbildes und -standes untergraben.
Was so gut wie nie hinterfragt wird, ist eine private Tätigkeit des SV für eine Haftpflichtversicherung. Dies könnte so manches
seltsame Gutachtenergebnis bei Architektenprozessen erklären.
-----------------------------------
Abschließend noch ein Hinweis auf die in der Praxis oft zu beobachtende Begriffsverwirrung:
Im § 8 (3) der obengenannten Sachverständigenordnung ist folgender Passus zu lesen:
„Der Sachverständige hat seine Aufträge unter Berücksichtigung des aktuellen Standes von Wissenschaft, Technik und Erfahrung mit der Sorgfalt eines ordentlichen Sachverständigen zu erledigen. (…)“
Es ist natürlich nachvollziehbar, dass diese Formulierung für alle Bereiche des Lebens gedacht sein soll. Aber sie ist für die Erfordernisse und Vorgänge bei der Erstellung von Bauwerken wenig hilfreich. Es ist oft eine Verwirrung darüber zu beobachten, sowohl was die Inhalte dieser Begriffe betrifft als auch darüber, wann sie zur Anwendung kommen müssen. Dies zeigen Gutachten und Schriftsätze der Parteien.
Der Stand der Wissenschaft dürfte nur sehr selten bei Hochbauwerken, die täglich erstellt werden und deren Herstellungs- und Nutzungsabläufe allgemein bekannt sind, z.B. bei Wohnungs-, Verwaltungs- und Gewerbebauten, vertraglich vereinbart werden. Soll nach dem Stand der aktuellen Technik gebaut werden, so muss dies vertraglich vereinbart sein, wenn er von den ansonsten geltenden Mindeststandards, die von den sogenannten „allgemein anerkannten Regeln der Bautechnik“ beschrieben werden, abweicht. Dies scheint so manchem SV nicht klar zu sein, wenn er mit seinen Beurteilungen, Bewertungen unter diesen Mindestanforderungen bleibt und/oder bei seinen Mängelbeseitigungsvorschlägen diese nicht berücksichtigt.
Wesen und Begriff der „Allgemein Anerkannten Regeln der Bautechnik“ entsprechen einem berechtigten Schutzbedürfnis des Bauherrn, nur ein Bauwerk errichtet zu bekommen, das auf Dauer gebrauchstauglich und haltbar, also „richtig“ ist.
In diesem Sinne stellen diese Regeln Mindestanforderungen an Planung und Ausführung dar, weil die dauerhafte Schadensfreiheit verlässlich vorhergesagt werden kann bzw. eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür spricht.
Insofern sollten sich diejenigen, welche diese Regeln nicht
anerkennen wollen, obwohl nichts Anderes vereinbart ist, fragen, nach welchen Kriterien ein verantwortungsbewusster, in der Haftung stehender Bauleiter eine Bauleistung abnehmen soll.
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Stand 07.05.17