Die Kunst der Formulierung der Beweisfrage

Der Weg zur systemlogischen Formulierung der Beweisfrage im Beweisverfahren beim Bauprozess:

In diesem Beitrag widerspreche ich der oft bei Juristen und Sachverständigen anzutreffenden Meinung, dem Sachverständigen sei ein möglichst großer Freiraum für die Beantwortung einer Beweisfrage, die über eine Mangelbehauptung entscheiden soll, einzuräumen. Diese systemwidrige Meinung riecht stark nach einer Verlagerung der Verantwortung und Entscheidung auf die Schultern einer Person, die weder die Ausbildung noch die Kompetenz eines Richters oder Richterin hat.
Aus diesem Blickwinkel muss auch die vom BGH zugelassene Symptombeschreibung als Ersatz für die substantiierte Mangelbeschreibung kritisiert werden.

Das Gericht entscheidet darüber, ob der behauptete Anspruch begründet ist und die angestrebte Rechtsfolge auslöst. Daher stelle ich den systemlogischen Leitsatz auf:
Alle Beteiligten, die zu einem Beweisverfahren beitragen, müssen sich der Arbeits- und  Denkmethodik des Gerichts unterordnen.

Dies gilt es schon bei der Formulierung der Beweisfrage zu beachten. Dazu muss die substantiierte Beschreibung des Baumangels (technische Denkweise), an die juristische Arbeits- und Denkmethodik angepasst werden.

Der Weg zur systemlogischen Formulierung der Beweisfrage:

Das technische Denksystem entwickelt sich aus der Verarbeitung von Erfahrungen. Beim Vergleichen dieser Erfahrungen werden Gemeinsamkeiten beobachtet, die zu einer geistigen Zusammenfassung führen und durch eine Regel dargestellt werden können. Dieses Ergebnis der induktiven Vorgehensweise führt zu einem bewährten Wissen, das Vorhersagen für die Brauchbarkeit und Nützlichkeit zukünftiger Bauleistungen erlaubt.
Somit ist es logisch, dass bei der Überprüfung einer Bauleistung von der Regel ausgegangen werden muss = deduktive Vorgehensweise. Es wird also überprüft, ob die Bauleistung die einzelnen Voraussetzungen der Regel erfüllt bzw. die Vorhersage sich verwirklicht (= technische Subsumtion).
Werden Brauchbarkeit und Nützlichkeit erzielt, kann von einer im Sinne der Regel richtigen Bauleistung gesprochen werden, d.h. das technische Vertragsziel (juristisch: der Werkerfolg) ist gegeben.

Das juristische Denksystem richtet sich nach Rechtsnormen. Das Gericht ermittelt die vertraglichen Vereinbarungen, die den Willen der Vertragspartner aufzeigen sollen. Auf dieser Grundlage werden die Tatsachenbehauptungen der Parteien den einschlägigen Rechtsnormen unterworfen. Das heißt, es wird einzeln geprüft, ob jede Voraussetzung dieser Rechtsnorm erfüllt wird = deduktive Vorgehensweise = Schlüssigkeitsprüfung = Subsumtionsarbeit.
Wird die Rechtsnorm erfüllt, wird die entsprechende Rechtsfolge ausgelöst.

Die oft zu hörende Meinung, dass die technische und die juristische Denkweise und Arbeitsmethodik grundsätzlich unterschiedlich und nicht vereinbar seien, ist nicht nachvollziehbar. Beide Denk- und Arbeitssysteme stehen auf dem gleichen Fundament: der Deduktion = der wissenschaftlichen Logik. Beiden Systemen ist gemeinsam, dass das Vorliegen der Voraussetzungen und Bedingungen zur Erfüllung einer Norm, sei sie rechtlich oder technisch, einzeln geprüft wird. Die logische Form dieser Prüfung ist der Syllogismus.

Die Schnittstelle zwischen dem technischen Sachverständigen und dem Gericht ergibt sich durch die jeweilige vertragliche Vereinbarung. Er muss prüfen, was technisch vereinbart ist bzw. ob eine Abweichung von einer technischen Regel (Sonderkonstruktion) als vereinbart angesehen werden muss. Er muss dann seine Subsumtionsarbeit an den einschlägigen technischen Regeln und/oder an den Voraussetzungen für die Sonderkonstruktion vollziehen. Logischerweise gemäß der deduktiven Methode des Syllogismus. Die Einhaltung dieser Methodik schließt ein persönliches Dafürhalten oder spezielle Präferenzen des Sachverständigen weitgehend aus = Objektivität der Sachverständigenarbeit = stringente Beweisführung.

Aber nicht übersehen werden darf der Schwachpunkt der deduktiven Methode:
die Prämissen werden als wahr angenommen, wobei die Konklusion aus dieser Annahme folgt. Daraus folgt für die Prüfung einer Bauleistung: Die Feststellung des Ist-Zustandes, z.B. des beanstandeten Bauteils, ist äußerst wichtig, sie muss sach- und fachgemäß so genau wie möglich ausfallen = Untersatz (II. Prämisse, propositio minor). Als Vergleichsgrundlage (Soll-Ist-Vergleich) muss die passende Vereinbarung und/oder die zutreffende Norm (Regel, I. Prämisse, propositio maior) hergenommen werden. Die Konklusion beschreibt das Vergleichsergebnis (maior schlägt minor).
Können die Prämissen und die Konklusion durch Überprüfung bestätigt werden, kann der Beweis als geführt gelten und anerkannt werden.

Für den gerichtlich beauftragten Sachverständigen gilt einzig und allein die Beweisfrage (Beweisthema). Um die Beantwortung durch den Sachverständigen für alle Beteiligten durchgängig nachprüfbar zu halten, ist es zwingend, den Syllogismus schon in der Beweisfrage anzulegen, damit der angestrebte Beweis durch logisches Erschließen der Tatsachenbehauptung aus bereits bekannten Voraussetzungen (Deduktion) erfolgen kann.

Daraus ergibt sich folgende Konsequenz für die Formulierung der Beweisfragen im Falle der Beanstandung von Bauleistungen:
Formulierung im Stil des logischen Dreisatzes (Syllogismus), in dem von zwei vorhandenen Aussagen logisch verbindlich auf die dritte Aussage geschlossen werden kann. Dabei sind mehrdeutige Begriffe zu vermeiden, um Schlussfehlern vorzubeugen.
Es ergibt sich folgende Reihenfolge:
1.     
Der Untersatz beschreibt die beanstandete Ausführung des
Ist-Zustandes vor Ort = Tatsachenbehauptung = Mangelbehauptung.
2.    
Der Obersatz beschreibt ein allgemeines Prinzip (Regel, Norm, Gesetz), das selbst keines Beweises bedarf (Axiom), und stellt somit den Rahmen dar, in dem die Tatsachenbehauptung (Faktum) ihre Beweiskraft erlangen kann
= Soll-Beschaffenheit = Grundlage für die technische Subsumtion.
3.     
Die Aufforderung zum Soll-Ist-Vergleich in Frageform = Aufforderung zur Konklusion an den Sachverständigen. Zum Beispiel: Entspricht die bestehende Ausführung (Ist-Zustand) den allgemein anerkannten Regeln der Bautechnik (Soll-Beschaffenheit) ? Oder noch genauer: Entspricht die bestehende Ausführung der Kellerabdichtung den Anforderungen der DIN 18195? 
Antwort: Ja oder nein, einschl. Angabe gegen welche Regelbestimmung verstoßen oder nicht verstoßen worden ist.

Die entgegen der klassischen Darstellung des Syllogismus hier empfohlene Reihenfolge (Untersatz, Obersatz, statt Obersatz, Untersatz) ergibt sich aus der Natur der Tatsachenbehauptung. Die Tatsachenbehauptung stützt sich in der Regel (und hoffentlich) schon auf einen vorausgegangenen Soll-Ist-Vergleich, der zur Beanstandung führte.
Die Beantwortung durch den gerichtlich beauftragten Sachverständigen soll den aufklärenden Schlusssatz (Konklusion) erbringen, der als Beweisführung von allen Verfahrensbeteiligten anerkannt werden kann = Subsumtionsarbeit bzw. Schlüssigkeitsprüfung durch den Sachverständigen.

Dies scheint die Konsequenz der Anwendung des Syllogismus zu sein: Die Formulierung des Beweisthemas erfolgt durch eine abschließende Alternativfrage: Ja oder nein? (= geschlossenes Fragesystem). Ebenfalls ein Indiz dafür, dass die eingangs erwähnte Meinung nicht schlüssig sein kann.

So müsste sowohl die Beweisführung der beweisbelasteten Partei in deren Beweisantrag als auch die Formulierung des Beweisthemas im Beweisbeschluss des Gerichts aussehen, wenn vom beauftragten Sachverständigen die nachprüfbare Lieferung des Anknüpfungspunktes für die Beurteilung der Frage, ob der Tatbestand der juristischen Anspruchsnorm erfüllt ist, verlangt wird.

Zuletzt noch ein Hinweis für den Rechtsanwalt, der die Mangelbehauptung seines Mandanten vor Gericht vertreten will:
Er sollte zuerst und unbedingt diese Behauptung gemäß der deduktiven Methode des Syllogismus überprüfen oder durch einen Baufachmann überprüfen lassen, wenn er das Prozessrisiko, insbesondere das Risiko aus der Arbeit des gerichtlich beauftragten Sachverständigen, minimieren will. Somit ist die vorausgehende Beurteilung durch einen kompetenten Baufachmann (sog. Privatgutachter) systemimmanent.
          

PETER  KLENK                                 
Ingenieurbüro für Bauanalysen              
Ingenieur (grad.) Fachbereich Architektur 
Wirtschaftsingenieur (grad.)  
Carl-Benz-Str. 4             
76437 Rastatt        
Fon 07222-967699       
E-Mail: Info@baukontrolle-klenk.com 


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Stand 19.07.2022